Tagung der International Walter Benjamin Society
„Über den Begriff der Geschichte/Geschichte schreiben“
12. bis 15. Dezember 2013
Goethe Universität Frankfurt am Main & Universität Mannheim
„In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“. Dieser Imperativ aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte gehört inzwischen selbst zu einer Überlieferung, die bedroht ist. Scheint doch im Spektrum des Werks inzwischen gerade das Geschichtsdenken zu sehr metaphysisch-heilsgeschichtlichen oder revolutionären Erwartungen verpflichtet, um noch Impulse zu bieten, die heute aufzunehmen wären. Und wozu auch? Benjamins vielfältige Schriften bieten genug andere Anknüpfungspunkte. Aber wenn man es sich damit zu einfach machte? Über den Begriff der Geschichte ist der letzte einer Reihe von radikalen Versuchen, in denen Benjamin einen anderen Begriff von Geschichte gedacht hat. Von den frühen Schriften an geht es ihm darum, Vorstellungen von Geschichte als einem homogenen und leeren Zeitkontinuum aufzubrechen, das Vergangene als Unabgeschlossenes und die Zukunft als Unverfügbares zu denken. Das Historische ist nicht in der Vorstellung eines Entwicklungsverlaufs zu suchen, sondern in der Kategorie des Ursprungs zu erfassen, die diese Vorstellung vernichtet. Aus solchem Denken speist sich Benjamins Pathos der Aktualisierung des Gegenwärtigen und sein, wie er in einem Brief an Gretel Adorno schreibt, „von mir sehr esoterisch gehandhabte Begriff des ,Jetzt’s der Erkennbarkeit‘“. Keiner Gegenwart ist das Gewesene besitzhaft zugänglich. Wenn heute im Internet alles, was sich ereignet hat, in universeller Zugänglichkeit präsent erscheint, manifestiert sich darin eine neue Gestalt des Historismus, den Benjamin als Pendant zur Fortschrittsideologie denunzierte?
Walter Benjamins Theorie der Geschichte, so lässt sich postulieren, nimmt unter den Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts eine in ihrer Radikalität singuläre Position ein. Sie als fragmentarisch oder essayistisch zu klassifizieren, unterschätzt die ihr innewohnende Kohärenz, argumentative Konsequenz und ihre besondere synthetische Kraft, indem sie geschichtsphilosophische, theologisch-messianische und politische Diskurse in durchaus wechselnden Begriffskonstellationen bündelt und transformiert. Trotz Benjamins enormer Wirkungsgeschichte ist sein Geschichtsdenken für die dominanten historiographischen Praktiken der Geisteswissenschaften nicht folgenreich geworden. Umso mehr ist es nötig, den Anspruch Benjamins, Geschichte anders zu denken, erneut zu überprüfen, um die darin angezeigten Chancen wahrzunehmen und das Hasardiöse seines Einsatzes zu bedenken. Der Kongress soll Benjamins kritische Position gegenüber den theoretischen wie politischen Diskursen seiner Zeit ins Zentrum rücken. Dabei wird es ebenso darauf ankommen, den historischen Abstand, der uns von Benjamins Kontext trennt, zu reflektieren wie seine Texte daraufhin zu befragen, wieweit sie Herausforderungen für eine Geschichtserkenntnis jenseits des ,Posthistoire‘-Geredes bereitstellen. Und es wäre seine Feststellung ernst zu nehmen, dass zu den geschichtlichen Veränderungen auch die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich medial organisiert, gehört.
Benjamin als Theoretiker historischer Erkenntnis zu thematisieren verlangt zudem, ihn als Praktiker des Schreibens von Geschichte wahrzunehmen. Nicht allein die großen Arbeiten wie Ursprung des deutschen Trauerspiels, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Deutsche Menschen oder das Passagen-Projekt stellen je spezifische Arten, Geschichte zu schreiben, dar. Nicht minder gewichtig werden in vielen kleinen Rezensionen, den Rundfunkarbeiten oder den Reiseaufzeichnungen am geschichtlich scheinbar Marginalen Erfahrungen reflektiert und überraschende historische Konstruktionen skizziert, die noch ihrer genaueren Erschließung sowohl im Blick auf die Quellen wie auf die besondere Schreibweise und Metaphernbildung harren.
Prof. Dr. Burkhardt Lindner Professor für Geschichte und Ästhetik der Medien sowie Neuere deutsche Literatur (i.R.)
Prof. Dr. Justus Fetscher Universität Mannheim, Seminar für deutsche Philologie, Lehrstuhl für Neuere Germanistik I
Nadine Werner, M.A. Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Arbeitsstelle Walter Benjamin
PROGRAMM
—->Texte zu den einzelnen Sektionen der Tagung der International Walter Benjamin Society.pdf
(206k)
Das aktuelle Programm der Tagung der International Walter Benjamin Society steht am Ende der Seite zum Download.
Donnerstag, 12.12.2013 – Goethe Universität Frankfurt a. M.
Campus Westend, Casinogebäude, Renate von Metzler-Saal, Raum 1.801
ab 12.30 Anmeldung
13.15 Begrüßung
13.30 Eröffnungsvortrag: Burkhardt Lindner (Frankfurt): Benjamins Optik. Anthropologischer Materialismus und die Zeit der Geschichtserkenntnis
ab 14.30 SEKTIONSVORSTELLUNG
14.30 Christine Blättler (Kiel) / Irving Wohlfarth (Paris): SEKTION 1 BENJAMINS THESEN ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE ALS MODELL MATERIALISTISCHER GESCHICHTSSCHREIBUNG
15.00 Heinz Brüggemann (Hannover): SEKTION 2 QUELLEN
15.30 Justus Fetscher (Mannheim) / Daniel Weidner (Berlin): SEKTION 3 BILD
16.00 Kaffeepause
16.30 Isabel Kranz (Erfurt): SEKTION 4 EPOCHENKONSTRUKTIONEN
17.00 Bernd Witte (Düsseldorf): Walter Benjamin und das Ende der Literatur: SEKTION 5 KUNST UND LITERATUR
17.30 Jessica Nitsche (Paderborn) / Nadine Werner (Berlin): SEKTION 6 KIND
18.00 Pause
20.00 Podium: Diagnose Erfahrungsarmut?
Helmut Lethen (Wien), Manfred Schneider (Bochum), Detlev Schöttker (Dresden), Moderation: Burkhardt Lindner
Freitag, 13.12.2013 – Goethe Universität Frankfurt a. M.
Gästehaus der Goethe Universtät, Frauenlobstr. 1
9.30 Uwe Steiner (Houston): SEKTION 7 POLITIK
10.00 Karl Solibakke (Syracuse): SEKTION 8 FALLSTUDIEN UND KONTEXTE
ab 10.45 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 1 BENJAMINS THESEN ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE ALS MODELL
MATERIALISTISCHER GESCHICHTSSCHREIBUNG
Wolfgang Kraushaar (Hamburg): Über Möglichkeiten und Grenzen, mit Benjamins Thesen historisch zu forschen
SEKTION 2 QUELLEN
Eckhardt Köhn (Frankfurt): Walter Benjamins neue Historik im Kontext der modernen Bildpublizistik
Axel Pichler (Berlin): Bewegte Bilder? Die Darstellungsverfahren in Über den Begriff der Geschichte im Lichte ihrer Genese
Stefanie Baumann (Paris): Siegfried Kracauers Benjamin-Kritik und das Problem der historischen Zeit
12.45 Mittagessen
14.45 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 3 BILD
Maria Teresa Costa (Paris): Walter Benjamins Auseinandersetzung mit der Kunstwissenschaft
Martin Mettin (Berlin): Klangbilder
Petra Löffler (Weimar): Geschichte in Bildern. Walter Benjamins Montagen
SEKTION 5 KUNST UND LITERATUR
Caroline Sauter (Frankfurt): Tod. Krieg. Geschichte(n). Über das Nachleben Fritz Heinles in Benjamins Dichtungstheorie
Kai L. Fischer (Bochum): Der “Hydra der Schulästhetik” die Köpfe abschlagen – Die Konstellation Walter Benjamin / Hans Robert Jauß
Julia Abel (Wuppertal): Das Kunstwerk im “Zeitalter seines Ruhmes”
16.45 Kaffeepause
17.15 Mitgliederversammlung der IWBS
19.15 Pause
19.30 Buchpräsentation: Edinburgh U.P., Harvard U.P., Cahiers de l’Herne, WuN
Moderation: Nadine Werner
ab 20.15 Empfang
Samstag 14.12.2013 – Goethe Universität Frankfurt/M.
Gästehaus der Goethe Universtät, Frauenlobstr. 1
9.30 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 4 EPOCHENKONSTRUKTIONEN
Ralf Arning (Berlin): Geschichtsmythen sprengen
Andreas Greiert (Hamburg): “Auflösung der Mythologie im Geschichtsraum”. Zur Epochen-Konstruktion Walter Benjamins
Paula Schwebel (Potsdam): “Natural History” and the Secularization of Creation
Veronica Ciantelli (Berlin): Das Schweigen des Mythos. Faszination und Gefährlichkeit der vormythischen Welt
SEKTION 6 KIND
Jens Birkmeyer (Münster): Mikrozeiten und Zeitreserven. Temporalität in Walter Benjamins “Berliner Kindheit um neunzehnhundert”
Ilit Ferber (Tel Aviv): Memory, Pain and Storytelling
Anne-Kathrin Reulecke (Graz): “Ein Büchlein geführt”. Walter Benjamins Erforschung der kindlichen Sprache zwischen Seelenkunde und Sprachtheorie
11.40 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 7 POLITIK
Johannes Steizinger (Berlin): Primat des Geistes. Politik und Geschichte in Benjamins Jugendphilosophie
Dennis Johannßen (Brown University): “Vorstudien zur Sabotage des Schicksals”. Nachträge zum Zusammenhang von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Walter Benjamin
Corinna Dziudzia (Gießen): Über den Begriff der Ästhetisierung
SEKTION 8 FALLSTUDIEN UND KONTEXTE
Johan Härnsten (Paris): Politics of the mimetic
Ari Linden (Cornell University): Mitschuldig an diesen Geräuschen: Benjamins Karl Kraus
Brendan Moran (University of Clagary): A Kafkan Physicality: Benjamin and Heidegger
13.40 Mittagessen
14.30 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 1 BENJAMINS THESEN ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE
Yanik Avila: Benjamins affektive Zeit
Wolfram Ette (Chemnitz): Benjamin-Kluge
Sami Khatib (Berlin): Benjamins erkenntnistheoretisch-politisches Apriori historischer Erkenntnis
Georg Otte (Universidade Federal de Minas Gerais): Zur Frage der Kontinuität in der Wissenschaftsgeschichte: Benjamin und Fleck
Martin Vialon (Ankara): Benjamins Geschichtsthesen: mit Vico und Marx neu gelesen
SEKTION 2 QUELLEN
Michael Städtler (Münster): Fortschritt als Zurückweichen. Zur Genese von Benjamins inversem fortschrittsbegriff
Mauro Ponzi (Rom): Den Pessimismus organisieren. Nietzsches Nihilismus als unheimlicher Gast in Benjamins Geschichtsauffassung
Stefano Marchesoni (Trient/Berlin): Zur Konstruktion des Eingedenkens. Benjamins Auseinandersetzung mit Ernst Blochs “Geist der Utopie” und Thomas Münzer
16.30 Kaffeepause
17.00 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 3 BILD
Giulio Giadrossi (London): Post-leben: Warburg, Benjamin and the historian as a philatelist
Philipp Ekardt (Paris): The Dialectical Image in Fashion History
David Wachter (Berlin): Lichtkegel und Sternbilder. Zur historisch-medialen Signatur der Lichtmetaphorik bei Benjamin und Kracauer
SEKTION 4 EPOCHENKONSTRUKTIONEN
John Abromeit (Buffalo State University): Theology and/or Materialism? Debates about History and Historicism between Horkheimer, Benjamin and Adorno in the 1930s
Christina Gerhardt (University of Hawai’i at Manoa): Natur-Geschichte: Benjamin’s Natural History and Adorno’s “The Idea of Natural History”
Moritz Hannemann (Bochum): Die Gegenwart der entspringt den Schichten der Geschichte: Zur Produktivität eines topologischen Geschichtsbegriffs
Arndt Wedemeyer (Berlin): For a History No Longer of the Event: The Function of Redemption in Walter Benjamin’s Conception of History
19.00 Pause
20.00 Podium: Benjamin und die europäische Intelligenz
Andrew Benjamin (Melbourne), Astrid Deuber-Mankowsky (Bochum), Josef Früchtl (Amsterdam), Alfons Söllner (Chemnitz) Moderation: Justus Fetscher
Sonntag, 15.12.2013 – Universität Mannheim / Ernst Bloch Zentrum Ludwigshafen
10.00 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 5 KUNST UND LITERATUR, Universität Mannheim, Mannheimer Schloss, Ehrenhof West, Raum 145
Leslie A. Adelson (Cornell University): Horizons of Hope in Times of Despair: Alexander Kluge’s Cosmic Miniatures for the 21st Century
Marc Caplan (Johns Hopkins University): The Weight of an Epoch: Allegory, Belatedness and the Persistence of the Baroque in Yiddish Modernism
Yoav Rinon (Jerusalem): Benjamin, Proust and the Question of Time and Identity
SEKTION 6 KIND, Ernst Bloch Zentrum, Walzmühlstraße 63, 67061 Ludwigshafen am Rhein
Corina Golgotiu (Paris): Die kindliche Geste bei Walter Benjamin – zwischen Erschöpfung, Ausbruch und Improvisation
Eva Axer (Nottingham): ‘Wegweiser ins Kinderbuch’. Sagenformel und Märchenmotiv bei Benjamin
12.00 Mittagspause / Ausstellung Ernst Bloch Zentrum
13.30 SEKTIONSARBEIT
SEKTION 7 POLITIK, Universität Mannheim, Mannheimer Schloss, Ehrenhof West, Raum 145
Antonio Roselli (Paderborn): Körpertechniken und politisches Handlungswissen im “Augenblick der Gefahr”
Philipp von Wussow (Leipzig): Walter Benjamin und Leo Strauss: Variationen des Politischen
Brian Britt (Virginia Tech): Benjamin’s Anarchismus
SEKTION 8 FALLSTUDIEN UND KONTEXTE, Universität Mannheim, Mannheimer Schloss, Ehrenhof West, Raum 151
Claas Morgenroth: „Das verknotete Netz des Geschehens“. Walter Benjamin liest J.P. Hebel als Fallgeschichte
Julia Ng (Harvard University): Zettelkästen: Benjamin’s Jean Paul and the Afterlife of the Aesthetic
Inka Sauter (Leipzig): Theologische Gegenwärtigkeit. Zum Geschichtsdenken bei Franz Rosenzweig und Walter Benjamin
15.30 Kaffeepause
15.45 RESUMÉS DER SEKTIONEN, Universität Mannheim, Mannheimer Schloss, Ehrenhof West, Raum 151
Sekt. 1: Christine Blättler / Irving Wohlfarth; Sekt. 2: Heinz Brüggemann / Erdmut Wizisla; Sekt. 3: Justus Fetscher / Daniel Weidner; Sekt. 4: Jeanne Marie Gagnebin; Sekt. 5: Michael Jennings / Vivian Liska; Sekt. 6: Jessica Nitsche / Nadine Werner; Sekt. 7: Chryssoula Kambas; Sekt. 8: Antonia Birnbaum – Moderation: Burkhardt Lindner