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NOW – Das Jetzt der Erkennbarkeit. Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft

October 17, 2006 - October 22, 2006

Conference-Report:

NOW – Das Jetzt der Erkennbarkeit. Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft

Festival in Berlin vom 17. bis 22. Oktober 2006

“NOW”: Dieser in Versalien gesetzte Anklang an Benjamins “mystisches Nu”, zugleich zu verstehen als englische Version seines “aktuellen Jetzt”, stand als titelgebende Chiffre über einem sechstägigen Festival, das im Oktober letzten Jahres vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin organi-siert wurde. Die hinzugefügten (Unter-)Titel formulierten diese doppelte Zeitlichkeit zudem als Markierung von Räumlichkeit: Das “Jetzt der Er-kennbarkeit” sollte an “Orten Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft” erfasst werden. Zu den realen Orten des Festivals gehörte nicht nur die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wis-senschaften, sondern auch die Staatsoper Unter den Linden, das Museum für Kommunikation, der Aktionsraum des “Museums für Gegenwart” im Hamburger Bahnhof oder das Kino Arsenal am Potsdamer Platz; und die “Erkennbarkeiten” kamen nicht nur im hergebrachten Vortragsformat zur Spra-che, sondern auch in Performances, Lesungen, Hörspiel- und Musiktheateraufführungen. Insgesamt beruhte das Vorhaben der Organisatorinnen Sigrid Weigel und Sabine Flach auf der Doppelstrategie zugleich eine wissenschaftliche Tagung durchzuführen und eine breitere Öffentlichkeit in die von Benjamin eröffneten Denkräume einzuführen. In der Tat gab es beachtlichen Publikumszuspruch gerade für die nicht-wissenschaftlichen Veranstaltungen, die alles andere als schmückendes Beiwerk waren. Das Programm erstreckte sich von Videoarbei-ten (Amie Siegel, Florian Zeyfang, Angela Melitopoulos) und Performances (Mariko Mori, Chris Mann, Daniel Ott) über eine Hörspielaufführung (Benjamins Fragment “Radau um Kasperl”) und ein musiktheatralisches Experiment (ein Eisler- Monteverdi-Abend, der zahlreiche Gedankenverbindungen zu Benjamin anbot) bis zur szenischen Lesung eines Totengesprächs zwischen Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg (von und mit Carl Djerassi). Zudem war eine Reihe von Vorträgen als “Lectures” aus dem eigentlichen Tagungsprogramm hervorgehoben worden. Hier präsentierten der Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès und der Kunsttheoretiker Georges Didi-Huberman ihre Lesarten von “Benjamins Jetztzeit”; Künstler wie Jochen Gerz, Thomas Struth, Robin Rhode, Alexander Kluge und Miklos Gaál erläuterten – mehr oder weniger explizit mit Benjamin argumentierend – ihre architek-tonischen und medialen Arbeiten; Suzanne Anker, Nan Hoover und Catherine Wagner dokumentierten unter der Überschrift “Laboratories of Art’s Know-ledge”, wie sich künstlerisches und naturwissenschaftliches Wissen in Beziehung setzen lässt und wie damit – im Sinne Benjamins – gegen disziplinäre “Grenzwächterei” argumentiert werden kann. Die Tagung selbst, die den wissenschaftlichen Grundstock des Festivals bildete, lieferte in ihren zwölf Sektionen eine wahrhaft enzyklopädische Ü-bersicht über neueste Tendenzen der Benjamin- Forschung. Dabei spannte sich der Bogen von editorischen Einsichten über die Materiallage – mit teils nachhaltigen Irritationen etablierter Gewissheiten über den Werkstatus des Benjaminschen Schreibens (Sektion 1, “Archiv und Edition”) –, bis hin zu Aus-einandersetzungen mit “Benjamins Kommunismus” (Sektion 12). Die Medialität Benjaminscher Texte in ihren unterschiedlichen Registern des unsystematischen Philosophierens, der Philologie und Literaturkritik oder der Übersetzung kam dabei ebenso zur Sprache wie der Zusammenhang von Künsten, Medien und Wissenschaften, wie er nach und mit Benjamin zu denken wäre. Eine Reihe von Plenarvorträgen bündelte die Perspektiven der Tagung. Sigrid Weigel thematisierte das Verhältnis von Kreatur und Schöpfung, wobei sie vor allem auf Benjamins Vorstellung einer “theologischen Erbmasse” der Moderne hinwies, die sich als Nachleben von Konzepten wie Schuld, Sünde und Gerechtigkeit zeige. Samuel Weber zeigte in einer detaillierten Lektüre von Benjamins Rede von der ‘- barkeit’ (Erkennbarkeit, Übersetzbarkeit etc.), wie sich Benjamins Suche nach der Medialität des Denkens auch terminologisch niederschlägt. Bernd Witte schloss an den Benjaminschen Befund einer Krise der Tradierbarkeit Überlegungen zur gleichwohl möglichen Kanonisierung moderner literarischer Texte an, die er letztlich durch die Literaturwissenschaft ge-währleistet sah. Uwe Steiner fragte nach dem bisher kaum untersuchten Verhältnis Benjamins zu Husserl, mit dem er sich nicht nur in seinem Studium auseinandersetzte, sondern als Gegenentwurf zu dessen Moderne-Begriff Benjamins Denken auch gelesen werden kann. Detlev Schöttker sprach über die historisch eigentlich zwingende, aber bislang nicht belegte Kenntnisnahme von Wittgensteins Tractatus durch Benjamin und führte in Form eines philologischen Experiments vor, wo solche Lektürespuren in Benjamins Texten liegen könnten. Anselm Haverkamp schließlich votierte für strikt philologische Lektüren im dekonstruktiven Sinn und wendete sich damit insbesondere gegen die Berufung Benjamins zum frühen Repräsentanten des pictorial turn. Die gleichermaßen breiten wie teils kontroversen Diskussionen über das Werk, seine Aktualität und Erkennbarkeit zeigen, dass die Benjamin-Forschung durchaus eine Zukunft hat und auch der neu konstituierten Gesellschaft eine Zukunft zu wünschen ist.  

 

Stefan Willer, Berlin

Details

Start:
October 17, 2006
End:
October 22, 2006