Suhrkamp 2009
von Florent Perrier, aus dem Französischenvon Horst Brühmann
Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin
“Ich habe nichts zu sagen, nur zu zeigen”. Der Philosoph als Limpensammler Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier, Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 1372 Seiten. Wenige Monaten vor dem 70. Todestag Walter Benjamins publiziert der Suhrkamp Verlag eine deutsche Übersetzung des monumentalen Buches von Jean-Michel Palmier Walter Benjamin. Le chiffonier, l’Ange et le Petit Bossu, das der französische Verlag Klincksieck 2006 postum veröffentlichte, meisterhaft herausgegeben von Florent Perrier. Dabei handelt es sich um eine umfangreiche und präzise argumentierende Rekonstruktion von Leben und Werk Walter Benjamins, die keinen neuen Interpretationsvorschlag liefern, sondern die Texte und Gedanken des deutschen Philosophen erleuchten möchte.Die unvollendete Arbeit konnte dank der Hilfe einiger ehemaliger Schüler Palmiers veröffentlicht werden. Das Buch sollte in fünf Teile gegliedert werden, von denen nur die ersten drei und ein kleiner Teil des vierten fertiggestellt worden sind. Der Rest ist als Schemata und Notizen lesbar, die einen Appendix des Buches bilden. Die ersten drei Teile kommen wahrscheinlich dem sehr nah, was die endgültige Version hätte sein sollen. Der erste Teil ist eine chronologische und dokumentierte Darstellung von Benjamins Leben; der zweite stellt einige Texte des deutschen Autors aus der Perspektive der Sprachphilosophie dar; der dritte heißt Ästhetik und Politik und führt in eine materialistische Ästhetik ein. Der vierte (von dem wir nur das Kapitel Materialismus und Messianismus lesen können) sollte die komplexe Dialektik zwischen Theologie und Politik erleuchten und der fünfte sollte in seinem Zentrum die Passagen-Arbeit behandeln. Wie Palmier selbst in seinen umfangreichen Notizen und Vorarbeiten von 1995 ankündigte: “Es wird um die präziseste und vollständigste Arbeit über den deutschen Autor gehen”. Es gibt tatsächlich bis heute in der Sekundärliteratur der verschiedenen Disziplinen keine umfassende Biographie, die zum Ziel hat, alles zur Kenntnis zu geben, was man über Benjamins Leben und Werk wissen sollte. Das verwundert, und das noch mehr in Deutschland, wo Benjamin in den letzten Jahren ein “Klassiker” geworden ist, dessen Texte sowohl im akademischen als auch im nicht-akademischen Bereich als kanonisch gelten. Deutschland hat nämlich – wie viele andere Länder – keine Biographietradition, vor allem keine von Denkerbiographien. Es gibt natürlich viele Benjamin-Profile, die aber zum Zweck haben, einen einzigen Aspekt seines Denkens zu analysieren und zu deuten. “Ich habe mich bemüht alle die Bucher, die Benjamin las, zu lesen, seinen politischen und ästhetischen Denkweg minutiös zu rekonstruieren”, schreibt Palmier. Das scheint einem Benjaminkenner sowohl unmöglich als auch arrogant. Wenn man aber das Buch liest, sieht man, dass der Autor sich eine enorme Arbeit mutig aufgeladen hat und damit Benjamins Texten in gewissem Sinne ihr Milieu gegeben hat; er rekonstruiert also sein Leben und Werk innerhalb des Horizontes des Wilhelminismus und sucht in jedem Text die Quellen zu finden und zu analysieren, von denen Benjamin – manchmal auch unbewußt – inspiriert worden sein kann. Benjamins politische Evolution ist z. B. nach Palmiers Meinung unverständlich, wenn man den Hintergrund des Wilhelminismus nicht kennt. Kein Deutungsmuster, keine Innovation, sondern eine großartige philologische Arbeit an den Quellen steht also hinter Palmiers Buch. Das bringt natürlich Vor- und Nachteile mit sich. Man fragt sich einerseits, ob man in der Sekundärliteratur über den deutschen Autor ein solch dickes Buch braucht, das nichts Neues zu sagen hat. Andererseits kann man aber auch behaupten, dass Palmier Benjamins Methode treu geblieben ist. “Ich habe nichts zu sagen, nur zu zeigen”, sagt Benjamin in einer berühmten Passage, in der er seine Methode als antisubjektivistisch vorstellt. Das Palmier-Buch ist voll von Zitaten aus Benjamins Texten, um dem Biographierten besonders nah zu bleiben. Das heißt aber nicht, dass Palmier die Schreibweise Benjamins benutzt. Er versucht, die Komplexität von Benjamins Werk mit einer klaren Sprache zu beleuchten, ohne Benjamins Texte zu banalisieren. Er bleibt ihnen also treu, aber nicht zu nah. Allerdings ist die Zitierweise manchmal sehr unpräzis, was mit der unvollendeten Natur des Buches zusammenhängen mag. Es spricht sehr für den deutschen Übersetzer Horst Brühmann, dass er ein solch monumentales Buch nicht nur übersetzt hat, sondern auch die vollständigen Zitate in den deutschen Texten wieder aufgesucht hat. Palmier kennt natürlich sehr gut den ansteckenden Reiz von Benjamins Texten. Er spricht von „der manchmal esoterischen Schönheit seines Stils, der Tiefe und Fremdheit seiner Formulierungen”. Durch die Worte von T. W. Adorno sagt er, dass einem vor Benjamins Texten „zumute wie einem Kind ist, das durch die Ritze der verschlossenen Tür das Licht des Weihnachtsbaums gewahrt“. Er ist mit der komplexen Geschichte der Benjamin-Rezeption (v. a. mit der Debatte um den marxistischen oder jüdischen Benjamin) vertraut –stellt sie aber nicht immer vollkommen korrekt dar. Palmier zeigt uns nämlich Benjamins Quellen gut, aber er scheint die Sekundärliteratur nicht vollständig zu kennen. Zum Fascinosum von Benjamins Sprache und zur breiten Debatte um Benjamins Denken geht er auf Abstand. Es scheint, als ob nach Palmiers Absicht kein kritischer Ansatz als solcher möglich wäre, ohne sich einerseits dem Benjaminkult zu entziehen, andererseits ohne ein einziges Interpretationsmodell oder einen einzigen Betrachtungspunkt zu vergessen. Trotzdem kann man feststellen, dass sich ein – wenn auch dünner – roter Faden durch Palmiers Buch hindurchzieht. Die drei Figuren, die dem Buch den Titel geben (Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein) haben etwas Gemeinsames: Durch Variationen des Themas “Rücken” (Tasche, Flügel, Buckel) verkörpern sie die Dialektik zwischen Schicksal und Rettung. Diese durchzieht alle Themen und Motive, die Palmier von Benjamins Denken untersucht. Vielleicht zeigt sich diese Figur in ihrer Prägnanz am besten im Kapitel Die Neuerschaffung der Literaturkritik als Gattung, in welchem die Kritik ihre Erfüllung im Begriff der Rettung sieht, sowohl als politischer als auch als theologischer Begriff verstanden. Dieses Kapitel ist eine Art mise en abyme des ganzen Buches – und seiner Intention. Was Palmier vorhatte, scheint eine Art Re-Konstruktion und Rettung von Benjamins Leben und seinen Texten, die seiner Meinung nach riskieren, durch unvollständige und oft einseitige Interpretationen entstellt oder vergessen zu werden. Auf der Schwelle zwischen Politik und Theologie, zwischen Marxismus und Judentum, bewegt sich die Philosophie von Benjamin, der als Lumpensammler die Dialektik im Stillstand zwischen Engel und bucklicht Männlein erfährt. Indem Palmier Benjamins Denken mit Akribie und Sorgfalt auf das Detail und auf das Einzelne zurückführt, bewegt er sich selbst als Lumpensammler. Vielleicht ist es kein Zufall, dass er, bevor er sein Opus magnum (Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel, bucklicht Männlein) schrieb, sich an einem Retour à Berlin geübt hatte, eine Art Berliner Kindheit, im Sinne einer Art Nach-Erzählung einer Reise nach Berlin, die nach vielen Jahren geschrieben wurde. Geht es hier um eine echte Wahlverwandtschaft? In Palmiers Text spiegelt sich die Tatsache, dass das wichtigste Werk Benjamins das Passagen-Werk werden sollte, ein Thema, über das Palmier – wegen seines frühen Todes – leider nur Notizen, Aphorismen, Stichwörter schreiben konnte. Das ist wirklich schade, weil dieses Kapitel angesichts von Palmiers Prämissen vielleicht das Interessanteste in seinem Buch hätte werden können. Aber vielleicht ist es das Schicksal eines unvollendeten Meisterwerks (das Passagen-Werk), auch in seinem Nachleben als Torso zu überdauern. Die Ruinen sind nämlich in Benjamins Sinne wichtig, nicht einfach wegen ihrer Seltenheit, sondern wegen ihrer Macht der Erinnerung und wegen ihrer Fähigkeit, begriffliche und bildliche Konstellationen zwischen verschiedenen Epochen zu schaffen.
Maria Teresa Costa |