Sektionen

1. Sektion: Konstruktion
(Carolin Duttlinger, Oxford; Daniel Weidner, Halle)

Seit Mitte der 1920er Jahre wird für Benjamin die Avantgardekunst zu einem zentralen Medium der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Der Bruch mit der ästhetischen Tradition, den Dadaismus, Surrealismus, Konstruktivismus und Neue Sachlichkeit wie auch die technischen Medien vollzogen, steht für eine veränderte „Konstruktion des Lebens“; Ideen wie das „positive Barbarentum“, die „Erfahrungsarmut“ oder die Zerstörung der „Aura“ ziehen daraus die Konsequenzen. Benjamin verwirft dabei die Konzepte einer Kunst- und Werkästhetik nicht einfach, sondern stellt sie anderen Ansätzen und Verfahren gegenüber: etwa der Montage, der Konstruktion, der Verfremdung, der Zerstreuung oder dem Bruch. Sein dezidiert internationaler und medienübergreifender Blickpunkt versucht, die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur aufzulösen und ästhetische Fragen politisch aufzuladen. Die Sektion lädt Beiträge zu Benjamins Auseinandersetzung mit literarischen und künstlerischen Avantgarden sowie der Populärkultur ein. Sie fragt, wie man von Benjamin aus die Geschichte und Nachgeschichte der Moderne denken kann und was eine Benjaminsche Perspektive für die Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur und -kunst bedeuten mag.

2. Sektion: Messianismus und Utopie
(Ilit Ferber, Tel-Aviv; Gabriele Guerra, Rom)

Benjamins Idee der „Hoffnung“ ist weit davon entfernt, intuitiv zu sein. In diesem Panel wird sie zusammen mit anderen Begriffen wie Utopie und Messianismus diskutiert, die zentral für sein Denken sind. Mit ihnen beschäftigte Benjamin sich schon seit seinen frühen Schriften bis zum Ende seines Lebens: von der Erwähnung Ernst Blochs im Theologisch-Politischen Fragment bis zum Hinweis auf die messianische Zeit in der jüdischen Tradition in der XVIII. These Über den Begriff der Geschichte. Das Panel versteht Hoffnung daher in Konstellation mit Theologie, Religionsgeschichte, Philosophie und politischem Denken im jeweiligen Kontext der zeitgenössischen Diskurse. Diskutiert wird auch Benjamins einzigartiges Verständnis von Zeitlichkeit, das in seinen Reflexionen über utopische und messianische Zeit zum Ausdruck kommt, ebenso wie die Beziehung zwischen Hoffnung, Gerechtigkeit und Erlösung. Zugleich soll sein Verständnis von Gewalt in ihrer möglichen Verbindung zur Hoffnung neu befragt werden. Wir laden Benjamin-Forscher*innen aus allen Disziplinen – Philosophie, Judaistik, Religions-, Literatur- und Politikwissenschaft – zur Teilnahme ein und hoffen auf eine lebendige und interdisziplinäre Diskussion.

3. Sektion: Eingreifendes Denken
(Jörg Kreienbrock, Evanston; Nassima Sahraoui, Hamburg)

Als Reaktion auf die politischen und ökonomischen Krisen der späten Weimarer Republik wurde Benjamin zunehmend vom Begriff der Kritik im Sinne eines ‚eingreifenden Denkens‘ geleitet. Dieses ist für ihn per definitionem dialektisch: Es erfordert die „Haltung des Materialisten“, die sich kritisch mit den politischen Gegebenheiten auseinandersetzt und den Gegensatz von Theorie und Praxis, Reflexion und Aktion neu verhandelt. Eingreifendes Denken versteht Kritik als zugleich erkenntnistheoretische Reflexion über eine Krise und als „soziales Verhalten“ in einer Krise; es entwirft neue politische Praktiken und damit möglicherweise eine Transformation – wenn nicht gar eine Revolution – konkreter politischer, philosophischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen des späten Kapitalismus. Die Sektion untersucht, welchen Widerhall die Idee des eingreifenden Denkens in Benjamins politischer Philosophie findet. Welche Formen der kritischen Wissensproduktion sind paradigmatisch für seine Vorstellung von Intervention? Was ist die Politik der Krise in einer Krise der Politik? Und welche der von Benjamin entworfenen Modi des eingreifenden Denkens könnten schließlich in der globalen Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden, noch gültig sein?

4. Sektion: Rettende Kritik
(Pola Groß, Berlin; Falko Schmieder, Berlin)

Das Verfahren der ‚rettenden Kritik‘ ist zentral für Benjamins Denken. Doch worin genau bestehen die kritischen Impulse, die sich mit dem Begriff der Rettung in seinem Werk verbinden? Von welchen anderen Positionen setzt sich Benjamin ab? Und wie ist es heute um die rettende Kritik bestellt? Offenbar liegt Benjamins rettender Kritik ein spezifisches Verständnis von Zeit und Geschichte zugrunde, das auf eine Betrachtung der Vergangenheit zielt, die deren unterdrückte oder unbeachtet gebliebene, aber glücksversprechenden Momente zu retten versucht. Damit ist das erkenntnistheoretische wie praktische Interesse verknüpft, die übersehenen, von herrschenden Sichtweisen verworfenen oder begrifflich nur schwer fassbaren Phänomene der Objektwelt in die Erinnerung zurückzuholen. Auch Benjamins Arbeit als Literaturkritiker und -theoretiker lässt sich in diesem Sinne verstehen, denn indem er fremd gewordene oder peripher anmutende Traditionsbestände, Texte und Phänomene neu betrachtet, versucht er sie vor dem Vergessen, der einseitigen Bewertung oder der politischen Indienstnahme zu retten. Inwiefern rettende Kritik selbst etwas Neues wagen muss, könnte darüber hinaus eine an Benjamin anschließende Frage sein. Wir freuen uns über Beitragsvorschläge zu diesen Themen.

5. Sektion: Architektur, Umwelt, Naturgeschichte
(Maria Teresa Costa, Berlin; Toni Hildebrandt, Bern)

Benjamins Philosophie der Geschichte eröffnet die Möglichkeit, den Begriff der Hoffnung in Verbindung mit seiner Idee der Rettung von Grund auf neu zu denken. Zahlreiche seiner Schriften beschäftigen sich mit der Schwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, dem dort situierten Wandel der conditio humana und der Wahrnehmung von Räumen. Dies führte Benjamin dazu, sich auch mit Themen der Umwelt auseinanderzusetzen: mit der Beziehung zu anderen Lebensformen, mit Artefakten und deren Mediengeschichte, mit einem Wandel der Idee von Landschaft ebenso wie mit urbanen und architektonischen Formen. Zahlreiche seiner Gedanken über Raum und Zeit kulminieren dabei in der Idee der Naturgeschichte. Die Sektion möchte diese Aspekte aus einer interdisziplinären Perspektive ausloten. Angesprochen sind im Besonderen die Philosophie, die Kunst- und Architekturgeschichte, die Film- und Medienwissenschaft, Queer und Postcolonial Studies sowie das Feld der Environmental Humanities. Ausdrücklich sind auch Beiträge von Künstler*innen erwünscht. Ziel ist es, einen Dialog mit Benjamins Schriften zur Raum- und Zeitlichkeit einer visuellen Epistemologie zu eröffnen und gemeinsam an deren „Jetzt der Lesbarkeit“ zu arbeiten. 

6. Sektion: Relektüren
(Ursula Marx, Berlin; Martin Mettin, Berlin)

In der Lektüre und Analyse von Texten lag für Benjamin das Potential einer allzeit möglichen Erneuerung. Vermittels der Kritik als Methode und Gegenstand literarischer Arbeit – sei es als Autor, Übersetzer, Herausgeber oder Rezensent – verband er die Hoffnung auf ein „Fortleben“ literarischer Werke. Literatur, so Benjamin, dürfe nicht „zum Stoffgebiet der Historie“ gemacht werden, sie müsse vielmehr „Organon der Geschichte“ sein. So blickt bei Benjamin der kritische Leser auf seinen Gegenstand wie der historische Materialist auf die Vergangenheit. Im Sinne einer Praxis des kritischen Lesens widmet sich das Panel der Rezeption von Benjamins Werk und fragt zugleich nach dessen eigenem Umgang mit literarischen Quellen. Welche Forschungsinteressen stehen gegenwärtig im Vordergrund und warum? Wie unterscheidet sich die deutschsprachige von der internationalen Rezeption? Verändert die kritische Gesamtausgabe Werke und Nachlaß die Deutung von Benjamins Werk gegenüber den Gesammelten Schriften? Welchen Erkenntnisgewinn bietet sie? Von welchem Interesse war Benjamins eigene Lektüre geleitet? Welche Methoden literarischer Aneignung verfolgte er? Welche Autor*innen und Themen griff er auf, was ignorierte er? Welchen Status haben interpretierende Lektüre und kritische Hermeneutik in Benjamins Denken? Was ist deren Verhältnis zur Gegenwart?