Workshop
14.-15. April 2023
Walter Benjamin Archiv, Berlin
Organisiert von Szilvia Gellai (Universität Wien) und Kevin Drews (Universität Halle)
Der Workshop wird aus Mitteln des Walter Benjamin Förderpreises für junge Forschende finanziert und vom Walter Benjamin Archiv (Berlin), Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin) und der Internationalen Walter Benjamin Gesellschaft unterstützt.
Please find the English version below.
Obwohl Benjamin die Komik bereits im Trauerspiel-Buch als „die obligate Innenseite der Trauer“ bestimmt, gehört das Bild des melancholischen Intellektuellen nach wie vor zum Standardrepertoire der Forschung. Tatsächlich verhält es sich mit dieser heiteren „Innenseite“ nicht nur im barocken Trauerspiel wie mit dem „Futter eines Kleides im Saum oder Revers“, sondern auch in Benjamins Schaffen. Humor, Lachen, Heiterkeit, Witz und Komik bleiben hier meist diskret verhüllt, zeigen sich eher in kleinen Formen oder blitzen en passant auf. „Nur nebenbei sei angemerkt“, heißt es symptomatisch in Der Autor als Produzent, „dass es fürs Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen. Und insbesondere bietet die Erschütterung des Zwerchfells dem Gedanken gewöhnlich bessere Chancen dar als die der Seele.“ Zu der breit diskutierten Verschränkung von Melancholie und allegorischer Anschauungsweise stehen besagte Erschütterungen durch das Lachen in einem auffälligen Spannungsverhältnis. Deutlich wird dies zum Beispiel in Benjamins Beschäftigung mit Paul Scheerbart, Salomo Friedlaender, Karl Kraus, Jean Paul, Max Kommerell, Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Sigmund Freud, Charles Fourier, H.H. Jahn. Dimensionen der Heiterkeit und Chancen des Gelächters spielen in den Schriften zu kindlichen Wahrnehmungs- und Äußerungsweisen, zur Technikrezeption, zur Micky Maus oder in den Selbstversuchen mit Haschisch eine wichtige Rolle. Gleiches gilt auch für die Aufzeichnungen zur fiktiven Universität Muri (Acta Muriensa) sowie die selten beachteten Polemiken und Satiren, die vor allem hinsichtlich ihrer konkreten Kontexte und zeitgeschichtlichen Anlässe zu entdecken sind.
Der Workshop möchte die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung dieser Phänomene lenken. Benjamins humoristische Einlassungen bieten dem Gedanken schon auch deshalb eine beachtliche Starthilfe, weil sie sich häufig an der Schnittstelle von Ästhetik und Politik bewegen. Humor erhält also eine Grenzfunktion. So attestiert Benjamin Scheerbarts Astroiden-Roman Lesabéndio das Potential, von der utopischen Kraft des Kunstwerkes zu „zeugen“, die nicht direkt zur Sprache kommen kann. Denn der Humor komme dort zum Tragen, wo das Wort nicht mehr oder allenfalls „in einer tiefen Verhüllung“ vermitteln könne. Damit steht Humor in enger Relation zu Benjamins Versuchen, auf das messianische Unverfügbare durch prekäre ästhetische Vorgänge wie Zeigen, Hindeuten, Zeugen, Verweisen aufmerksam zu machen. Andernorts wird der Humor als „angewandte Gerechtigkeit“ oder „Rechtsprechung ohne Urteil“ charakterisiert, was auf politische Überlegungen aus dem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt verweist. Im „Reich der Sprache“ vermag der Humor nämlich „die dämonischen Gewalten in dem des Rechts“ zu überwinden. Mit Blick auf Marcel Proust betont Benjamin wiederum die „subversive Seite“ der Komik, die der „saturierten Gesellschaft“ nicht nur einen Spiegel vorhält, sondern sie mehr noch „im Gelächter nieder[schleudert]“. Denkwürdig ist nicht zuletzt auch der politische Gegensatz, den Benjamin in den Notizen zum Kunstwerk-Aufsatz zwischen der „Heiterkeit des Kommunismus“ und dem „tierischen Ernst des Faschismus“ aufspannt. Diese Polarität hängt nämlich aufs Engste mit der Vorstellung einer gelungenen Technikrezeption zusammen; mit der Vorstellung, dass die destruktive Seite industrieller Technologien und das kleinbürgerliche Menschenbild des Humanismus durch die technische Neuorganisation der kollektiven Physis überwunden werden können. Im Ansatz verdeutlicht schon das kollektive Gelächter im Kino (angesichts etwa Chaplins Modern Times) das metamorphotische Potential einer ‚heiteren‘ Technikrezeption. Einige dieser Motive wurden jüngst aus einer posthumanistischen Perspektive aufgegriffen. Daran anschließend werden im Workshop den Überlegungen zu einem ‚neuen Menschen‘ solche über den Humor zur Seite zu stellen sein.
Die Veranstaltung möchte junge Forscher:innen zusammenbringen, um die vielfältigen Einsatzpunkte, Argumentationen und Chancen rund um Humor, Lachen, Heiterkeit, Witz und Komik in Benjamins Schriften zu diskutieren. Dabei soll es nicht darum gehen, eine verdeckte, übersehene oder fragmentierte Theorie freizulegen. Ziel des Workshops ist es vielmehr, das Feld unterschiedlicher Reflexionen über die genannten Phänomene auszumessen. Da die einschlägigen Einlassungen häufig im Rahmen einzelner Autorenporträts zu finden sind, stellt sich außerdem die Frage nach konkreten intertextuellen Beziehungen, intellektuellen Resonanzen und ästhetikgeschichtlichen Echos. Daher gilt es, Benjamins Texte primär in konkreten Debatten, intellektuellen Konstellationen und diskursiven Rahmen eingebettet zu betrachten. Woran entzünden sich Benjamins Reflexionen über Humor, Lachen, Heiterkeit, Witz und Komik? Wie konzipiert er diese Phänomene? Auf welche zeitgeschichtlichen Debatten reagiert er dabei? Welche strategisch inszenierten intertextuellen Bezüge ruft er dafür auf? Welche Argumentations- und Denkfiguren, Topoi oder Bilder stehen mit Humor im Zusammenhang? Welche Reflexionen über die eigene Schreibposition begleiten Anlässe des Gelächters? In welchem Verhältnis stehen diese zur Rolle der Melancholie und der Allegorie?
Der Workshop findet vom 14. bis 15. April 2023 im Walter Benjamin Archiv in Berlin statt. Interessierte laden wir dazu ein, Beitragsvorschläge (ca. 300 Wörter) mit bio-bibliographischen Angaben (max. 150 Wörter) einzureichen sowie Benjamin-Texte zur gemeinsamen Lektüre zu nominieren. Während der Workshoptage wechseln sich Slots mit kurzen Impulsvorträgen (15-20 Min) und Benjamin-Lektüren ab. Um den Werkstattcharakter der Veranstaltung zu gewährleisten, möchten wir den Schwerpunkt auf die Diskussionen legen. Vorträge können auf Deutsch und Englisch gehalten werden, die Arbeitssprache ist primär Deutsch.
Zusendungen bitte bis zum 15.01.2023 an folgende Adressen:
szilvia.gellai@univie.ac.at
kevin.drews@germanistik.uni-halle.de
Für den Vorabend der Veranstaltung (13. April) ist ein Podiumsgespräch über die Medien des Humors bei Benjamin geplant. Geführt wird das Gespräch vornehmlich mit Künstler:innen, die sich Benjamins Arbeiten über verschiedene Medien und historisch-konstellierende Verfahren angenähert haben. Auf diese Weise sollen die im Workshop eröffneten kulturwissenschaftlichen Perspektiven um Seitenblicke auf künstlerische Praktiken ergänzt werden.
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Workshop
Call for Papers: The Opportunities of Laughter: On the Aesthetics and Politics of Humor in Walter Benjamin
14.-15. April 2023
Walter Benjamin Archiv, Berlin
Organized by Szilvia Gellai (University of Vienna) and Kevin Drews (University of Halle)
The workshop is funded by the Walter Benjamin Award for Young Researchers and supported by the Walter Benjamin Archiv (Berlin), Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin), and the International Walter Benjamin Society.
Although Benjamin already defines comedy as “the essential inner side of mourning” in The Origin of German Tragic Drama, the image of the melancholic intellectual is still a part of the standard research repertoire. This cheerful “inner side” does not just act “like the lining of a dress at the hem or lapel” in the baroque Trauerspiel, but also in Benjamin’s work. Humor, laughter, mirth, wit, and comedy are present here, mostly discreetly veiled, showing themselves in ‘small forms’ or flashing the reader en passant. In this vein, The Author as Producer claims: “It may be noted, incidentally, that there is no better trigger for thinking than laughter. In particular, convulsion of the diaphragm usually provides better opportunities for thought than convulsion of the soul.” In the widely discussed interweaving of melancholy and allegorical approach, the convulsions of laughter remain in a conspicuous tension. This tension becomes apparent in Benjamin’s work on Paul Scheerbart, Salomo Friedlaender, Karl Kraus, Jean Paul, Max Kommerell, Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Sigmund Freud, Charles Fourier, and H.H. Jahn. Dimensions of serenity and opportunities of laughter play a crucial role in his writings on childlike modes of perception and expression, the reception of technology, Mickey Mouse, or his experimentation with hashish. The same can be said as well for the notes on the fictitious University of Muri (Acta Muriensa) and the rarely noticed polemics and satires, which are waiting to be explored with regard to their specific contexts and contemporary historical occasions.
The workshop would like to draw attention to the significance of these phenomena. Benjamin’s humorous statements offer a considerable jumping-off point to thinking because they are often present at the intersection of aesthetics and politics. Humor therefore serves as a bordering function. For example, in Scheerbart’s asteroid novel Lesabéndio, Benjamin recognizes the potential to “bear witness” to the utopian power of the work of art, which cannot be directly addressed. This is because humor comes into play in the space where the word can no longer convey meaning, or at best, does so “in a deep veiling.” Humor is thus closely related to Benjamin’s attempts to highlight the messianic unavailable through precarious aesthetic processes such as pointing, hinting, witnessing, and referring. Elsewhere, humor is characterized as “applied justice” or “jurisprudence without judgment,” which refers to political considerations in the essay On the Critique of Violence. In the “realm of language,” humor can overcome “the demonic powers” in the realm of law. With regard to Marcel Proust, however, Benjamin emphasizes the “subversive side” of comedy, which does not just reflect “a satiated society,” but rather “flings it down” in laughter. Last but not least, in this context, it is vital to recall Benjamin’s political contradiction between “the serenity of communism” and “the beastly seriousness of fascism” in the notes on the artwork essay. This polarity is closely connected with the idea of the successful reception of technology – with the idea that the destructive side of industrial technologies and humanism’s petty-bourgeois notion of “man” can be overcome by the technical reorganization of the collective body. To some extent, even the collective laughter in cinema (such as in Charlie Chaplin’s Modern Times) illustrates the metamorphic potential of the cheerful reception of technology. Some of these motifs have recently been taken up from a posthumanist perspective. In the workshop, reflections on the “new man” will be juxtaposed with those on humor.
The event is intended to bring together young scholars to discuss the multiple points of application, argumentation, and opportunities of humor, laughter, mirth, wit, and comedy in Benjamin’s writings. The purpose is not to uncover a theory that has been obscured, overlooked, or fragmented. Instead, the workshop aims to survey the field of different reflections on the phenomena mentioned above. Moreover, since the pertinent statements are often found in the context of individual authorial portraits, the question of concrete intertextual relations, intellectual resonances, and echoes in the history of aesthetics arises. Therefore, it is necessary to consider Benjamin’s texts primarily embedded in concrete debates, intellectual constellations, and discursive frameworks. What ignites Benjamin’s reflections on humor, laughter, mirth, wit, and comedy? How does he conceptualize these phenomena? To which contemporary debates does he respond? What strategically staged intertextual references does he invoke for this purpose? Which arguments, thinking patterns, topoi, or images are related to humor? What reflections on his own writing position accompany occasions of laughter? How do these relate to the role of melancholy and allegory?
The workshop will take place April 14-15, 2023 at the Walter Benjamin Archive in Berlin. We invite young scholars to submit contribution proposals (ca. 300 words) with biographical and bibliographical information (max. 150 words) and suggest Benjamin texts for joint reading. On the workshop days, timeslots will alternate between short presentations (15-20 minutes) and discussions of the Benjamin readings. To ensure the workshop character of the event, we would like to focus on the discussions. Presentations can be given in German and English. The working language is primarily German.
Please send submissions to the following addresses by 01/15/2023:
szilvia.gellai@univie.ac.at
kevin.drews@germanistik.uni-halle.de
A panel discussion on the media of humor in Benjamin is planned for the evening before the event (April 13). The discussion will primarily be led by artists who have approached Benjamin’s work through various media and historically constellating processes. This way, the cultural studies perspectives discussed in the workshop will be supplemented by additional glances at artistic practices.