Heinz Brüggemann; Günter Oesterle: Walter Benjamin und die romantische Moderne

Königshausen und Neumann 2009
von Heinz Brüggemann und Günter Oesterle

Eine ‘kräfrige Einsicht in die Nachtseite des Natürlichen’

Walter Benjamins Beschäftigung mit der deutschen Romantik kann als eine der kontinuierlichsten und gründlichsten Auseinandersetzungen seines Denkens betrachtet werden. Von der Frühschrift Romantik, einer im Geiste der Jugendbewegung verfassten „nicht gehaltene[n] Rede an die Schuljugend“ von 1913, bis zur 1939 publizierten Rezension einer französischen Romantikuntersuchung von Albert Béguin bleibt der Romantikbezug ein immer wiederkehrendes Motiv, das in seiner Komplexität weder eine werkgeschichtliche Eingrenzung auf Früh-, Mittel- oder Spätwerk noch das klischeehafte Benjaminbild eines verspäteten (Früh-) Romantikers zulässt.

Angesichts der schier unüberblickbaren Menge an möglichen Bezügen, mag es nicht wundern, wenn der von Heinz Brüggemann und Günter Oesterle herausgegebene Band Walter Benjamin und die romantische Moderneeinen Umfang von nahezu 600 Seiten aufbietet. Mit dem titelgebenden Bezug auf eine „romantische Moderne“ trägt der Band der Einsicht Rechnung, dass es Benjamin weder um einen unvermittelten Romantikbezug noch eine historistische Relativierung der Romantik denn um die „geschichtliche Konstellation“ geht, in die die Romantik zur Moderne tritt. Wenn es dem späteren materialistischen Benjamin in seiner Lesart der Romantik um „unser[en][n], aktuale[n] Anteil am Gegenstand“ zu tun ist, muss die heutige Forschung mindestens eine Doppelperspektive einnehmen: einerseits gilt es der expliziten Romantikrezeption in seinen Einzelwerken textkritisch zu folgen; andererseits geht es um die Darstellung der geschichtlichen und philosophisch-erkenntniskritischen Konstellation, in die Benjamin als Autor der Moderne mit der Romantik getreten ist. Denn so originell sich seine Beschäftigung mit der Romantik heute liest, so folgt sie doch auch, wie die Brüggemann und Oesterle in ihrer Einleitung feststellen, „einer spezifisch deutschen historischen Konstellation. Die Wiederentdeckung der Romantik am Ende des 19. Jahrhunderts inspiriert die kulturkritischen und lebensreformerischen Bewegungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg: in Gestalt der ‚Konservativen Revolution’ in den 20er Jahren, die sich mit der ‚Politischen Romantik’ intensiv auseinandersetzt, aber auch in Gestalt des Anarchismus seit Gustav Landauer, der sich auf Novalis beruft.“ 

Angesichts dieser komplexen Ausgangslage folgt der Großteil der Beiträge der vorherrschenden Tendenz der Benjaminforschung, sich eher philologisch auf konkrete Konstellationen zu begrenzen und auf aktualisierende, konzeptuell verdichtende oder Bezüge zu anderen Forschungsfeldern herstellende Fragestellungen weitgehend zu verzichten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Brüggemanns innovative Untersuchung zu „Walter Benjamins Projekt ‚Phantasie und Farbe’ in romantischen Kontexten“, die ausgehend von Benjamins wenig beachtetem Dialog Der Regenbogen Bezüge zu August Wilhelm Schlegels Kunstlehre und Goethes Farbenlehreherstellt und diese mit einer an John Ruskin anknüpfenden „Bildtheorie des unbegrifflichen Sehens“ gegenliest. Brüggemann erkennt in Benjamins Beschäftigung mit dem Themenkomplex Phantasie, Farbenlehre und Bildtheorie eine Fortführung einer „ästhetischen und poetologischen Theoriebildung der deutschen Klassik und Frühromantik“, als deren Pointe das „Konzept der reinen Farbe als Medium der Phantasie“ verstanden werden kann. Diese originelle Lesart eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf Benjamins frühen Sprachaufsatz sondern auch auf sein späteres ins Anthropologisch-Materialistische gewendete und vom Surrealismus beeinflusstes Phantasiekonzept.

Einen weitren Höhepunkt des Bandes bildet Uwe Steiners verdienstvoller Beitrag „Der eigentliche Leser“, der Benjamins Verhältnis zu Florens Christian Rang beleuchtet und dessen bisher wenig beachteten „großen Brief zur Dissertation“ an Benjamin vom 10.10.1920 dokumentiert. Das Fundstück, das hier als Faksimile zusammen mit Rangs Marginalien zu Benjamins Dissertationsschrift erstabgedruckt wird, bietet zusammen mit dem Anmerkungsapparat des ebenfalls von Steiner editierten dritten Bands der Kritischen Gesamtausgabe eine für zukünftige Forschungsarbeiten unverzichtbare und philologisch hervorragend aufbereitete Textgrundlage zum Thema.

Benjamins Dissertation markiert bekannterweise den quellenbezogenen Schwerpunkt seiner frühen Romantikrezeption; weniger beforscht sind die Schwankungen, Wendungen und Umarbeitungen romantischer Texte, Motive und Themenstellungen in seinen späteren Texten. Der 2007 verstorbene Stéphane Mosès, dem die Herausgeber ihren Band gewidmet haben, argumentiert dementsprechend in seinem Beitrag, dass eine ausschließlich auf das Frühwerk fokussierte Lektüre von Benjamins Romantikbeschäftigung zu kurz greift, da sich mit dem Trauerspiel-Buch Mitte der 20er Jahre eine „Absage an die romantische Kunsttheorie“ ankündigt, ohne dass die Referenzen auf die Romantik dabei verschwünden. Denn selbst an unerwarteter Stelle wie im auf den ersten Blick unromantischsten Essay über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) taucht ein Romantikbezug auf, wie Burkhardt Lindners Beitrag „Versuche überTraumkitsch. Die blaue Blume im Land der Technik“ überzeugend darlegt.

Überraschend ist allerdings, dass nur wenige Beiträge dem in Benjamins Dissertation chiffrehaft anklingenden Verweis auf einen „romantischen Messianismus“ gefolgt sind und keiner konzeptionelle Bezüge zum politischen Messianismus des marxistisch orientierten Spätwerks eingehend untersucht. Lediglich Steiner hält Benjamins eigener Einschätzung, wonach der Messianismus „das Zentrum der Romantik“ darstelle, folgendes Fazit entgegen: „Im Messianismus das geheime Zentrum der Romantik zu erkennen, das heißt für Benjamin vor allem, ihr Scheitern zu begreifen.“ Ohne Steiners These hier diskutieren zu können, wäre es sicherlich auch interessant gewesen zu erfahren, was Benjamin selbst unter einem Messianismus romantischer Prägung verstanden haben mochte.

Sami Khatib